Sie lebte in der Stadt Ur im 23. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, war Hohepriesterin und Tochter des Sargon von Akkad, der alles, was vor ihm war, prä-sargonisch machte – Enheduanna, der erste Mensch, der als Autor identifizierbar ist. Sie ist der dritte Meilenstein in der Geschichte des Schreibens nach dem Gilgamesch-Epos, das noch ein paar hundert Jahre tiefer in die Vergangenheit reicht, und dem Schreiben selbst, also der sumerischen Keilschrift und den ägyptischen Hieroglyphen.
Es sind die Texte, die die Vorgeschichte von der Geschichte trennen. Geschichte im engeren Sinne ist definiert als die Phase der Menschheit, in der geschrieben wird. Von der wir Namen und Beschreibungen haben. Die Mega-Kultstätte Göbekli Tepe und die Höhlenmalereien in der Grotte von Lascaux sind nach dieser Definition vorgeschichtlich. Geschichte ist nur die 5000 Jahre hohe Spitze des Eisbergs im Leben des Homo sapiens, das mindestens 200.000 Jahre in die Tiefe geht. Das sind überwältigende Zahlen, wenn man berücksichtigt, dass wir schon stolz sein können, wenn wir eine Ahnenreihe von zwanzig Generationen gewärtig haben, obwohl wir damit nur bis zu Kolumbus‘ Amerika-Expedition reichen.
Um die Verschmelzung von Zeit und Wort geht es hier und um die ersten Namen, nicht darum, was Enheduanna zu sagen hatte. Denn was es bedeutet, Namen aus so frühen Epochen zu kennen, das können wir uns heute kaum noch vorstellen. Wer nachliest, in welch kreativer und kleinteiliger Fitzelarbeit die ältesten bekannten verschriftlichten Sprachen – mehr als zwei Dutzend – seit dem 19. Jahrhundert reanimiert worden sind, wird merken, dass wir erst seit kaum mehr als 150 Jahren anfangen zu verstehen, was damals eigentlich los war. Zuvor fing die Welt für einen Europäer mit der Bibel, Homer und Aristoteles an. Zum Vergleich: Die frühesten Bibeltexte sind ungefähr 1700 Jahre vom geschriebenen Gilgamesch-Epos entfernt, Aristoteles noch knapp 700 Jahre weiter.
Danach, ja danach wird es immer klarer, denn es folgen Traditionen und Ketten, Bezüge und Erwähnungen, immer mehr Texte, fast nur noch in Alphabeten anstatt in unpraktischer Silbenschrift. In Alexandria entsteht eine riesige Bibliothek, die bis heute als Prototyp im Kollektivgedächtnis verblieben ist – anders als Ashurbanipals ältere, riesige Keilschriftbibliothek im assyrischen Niniveh im siebten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, die wir noch nicht so lange kennen. Aber auch Ashurbanipal hatte den Anspruch, alles geschriebene Wissen der Welt zu sammeln, und er hatte eine Menge Energie und Mittel, um diesen Plan auch umzusetzen.
Wenn das so ist, wenn es uns also erst seit etwa 150 Jahren langsam dämmert, was kann uns dann in der Zukunft noch erwarten? Die Entdeckung der erstaunlich alten Steinpfeiler von Göbekli Tepe kurz vor dem Milleniumswechsel etwa haben diverse Datierungen und Zuordnungen durcheinandergebracht. Ständig werden Ereignisse und Entwicklungen vordatiert, weil man neue Belege findet. Immer mehr alte Texte werden analysiert. Außerdem können wir heute mit Scans und Luftaufnahmen und Radio-Karbon und starken Rechnern viel besser forschen als früher, noch dazu mit einem bedeutend größeren Personal als in der Zeit der Pioniere der Archäologie. Dazu kommt, dass Outsider-Meinungen mehr Gehör finden können, wenn sie interessante Theorien hervorbringen, denn der Wissenschaftsbetrieb ist auf diesem Sektor insgesamt weniger gesteuert als früher. Da wird noch viel passieren. Wäre es nicht wunderbar, wenn unter den Eisschichten irgendwo eine Schrift auftauchte, die seit 13.000 Jahren niemand mehr gesehen hat?
Literatur:
Woods, Christopher (ed.) (2010): Visible Language. Inventions of Writing. Oriental Institute Museum Publications Number 32. University of Chicago. 240 pp.
Zu Ashurbanipals Keilschriftbibliothek siehe das einstündige, sehr unterhaltsame Interview mit Prof. Irvin Finkel vom 06.01.2021 auf dem Kanal British Museum Events unter https://youtu.be/Ls9JkxFEB9g (in englischer Sprache)